Werkeinführung
Mit Bach durch die Regio: Bachs „Kunst der Fuge“
Werkeinführung
St. Peter, Fürstensaal, 20.05.18
Autor: Johannes Adam
Meine Damen und Herren,
Sie wollen also heute hier in St. Peter Johann Sebastian Bachs „Kunst der Fuge“ hören. Eine anspruchsvolle, komplizierte Musik. Da haben Sie sich viel vorgenommen. Fragen wir uns: Was hat es mit Bach und was hat es mit diesem Werk auf sich?
„Und vielleicht ist es das, was die Menschen an Bach so lieben und warum sie ihn immer mehr lieben. 333 Jahre nach Bachs Geburtstag schreit die ganze Welt ohne Unterlass Ich. In Bachs Musik aber ist Stille, so etwas wie ein Raum, in dem man zu sich selbst kommen kann, weil dort niemand labert, von sich selbst redet, niemand größer sein will als alle anderen, als man selbst. Bach macht nie Angst. Man fühlt sich bei ihm geborgen, verstanden, getragen, und deswegen auch nie allein. Man fühlt sich erkannt und erkennt sich zugleich selbst.“ Diese klugen, zugebenermaßen nicht ganz pathosfreien Sätze konnte man am 28. März 2018 in der Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“ lesen – in der Ausgabe zu Ostern. Bachs 333. Geburtstag lag da ein paar Tage zurück.
Bach war Komponist. Und zwar ein ganz großer. Vielleicht sogar der größte, den wir je hatten. Immer wieder aber ist es schön und sympathisch, wenn solche geradezu überirdischen, gigantischen Meister sich ausgesprochen menschlich zeigen – und das meist im reiferen Alter. Etwa, indem sie in ihrer Kunst und in ihrem Œuvre Ordnung schaffen. Das tat auch Bach – man denke an die 18 Leipziger Orgelchoräle, in denen er Muster dessen lieferte, was damals auf dem Gebiet der Choralbearbeitung für sein ureigenes Instrument en vogue war. Überdies stellte er die sechs wunderbaren, nach dem Verleger benannten Schübler-Choräle zusammen, die auf eigenen Kantatensätzen basieren. Der späte Bach – er komponierte die Canonischen Veränderungen über das Weihnachtslied „Vom Himmel hoch, da komm‘ ich her“. Der Thomaskantor schuf das Musikalische Opfer. Und er machte sich an jenes Kompendium, das da heißt: „Die Kunst der Fuge“ BWV 1080. Zu Studienzeiten, das muss ich hier zugeben, nannten wir die „Kunst der Fuge“ in der universitären Kürzelsprache etwas übermütig KdF …
Die Kunst der Fuge – was ist das? Der späte Bach hat sich, so dürfen wir uns das vorstellen, gleichsam in Klausur begeben und exemplarisch dargelegt, was sich auf dem Gipfel von Kontrapunkt und Polyphonie mit einem Thema alles bewerkstelligen lässt. Bach tat dies zu einem Zeitpunkt, als die aktuelle Musik um ihn herum bereits eine ziemlich andere war. Gemeint ist jene Musik, der es kaum mehr darum ging, den strengen Gesetzen des alten Kontrapunkts zu gehorchen – man denke ans Schaffen der Bach-Söhne oder auch an die üppige Produktion aus der Feder Georg Philipp Telemanns.
Hans Heinrich Eggebrecht, der einstige Freiburger Ordinarius für Musikwissenschaft, der über „Erscheinung und Deutung“ der „Kunst der Fuge“ 1984 ein lesenswertes Büchlein vorgelegt hat, benennt die Problematik, indem er feststellt: „Kaum ein anderes Werk der Musik bietet so viele offene Fragen wie dieses späte von Bach.“ Darunter sind Fragen, die wir nicht oder nicht mehr beantworten können. Fragen, die etwa aus der Tatsache resultieren, dass die „Kunst der Fuge“ Fragment geblieben ist. In der Musik, die sich ja als Phänomen in der Zeit ereignet, fördern solche Fragmente die Mythenbildung. Weitere prominente Beispiele dieser Art sind Mozarts Requiem oder Franz Schuberts h-Moll-Sinfonie, die sogenannte Unvollendete. Was aber ist damals bei Bach passiert? Ganz einfach und ganz menschlich: „Über dieser Fuge, wo der Name BACH im Contrasubjekt angebracht worden, ist der Verfasser gestorben“ – Bachs zweitältester Sohn Carl Philipp Emanuel liefert die oder besser: eine Erklärung, warum das Werk unvollständig ist. Der Bach-Filius tut das, wie wir Journalisten sagen würden, knochentrocken nachrichtlich. Ein Anliegen ist ihm offenkundig, jenes B-A-C-H, Bach, den Familiennamen, das vom Vater im Werk angebrachte Viertonmotiv und klingende Bauhüttenzeichen, explizit zu erwähnen.
Die „Kunst der Fuge“ steht in d-Moll. Und somit das ganze Werk. Bei Bach ist das die Tonart jener viel strapazierten epidemischen Orgeltoccata, die jeder kennt (sofern sie überhaupt von Bach stammt), oder auch der Dorischen Toccata, die, ungeachtet ihres Beinamens „Dorische“, in d-Moll steht. Es ist die Tonart der Partita BWV 1004 für Violine solo mit der berühmten Chaconne. Es ist zudem die Tonart, die der Wiener Klassiker Mozart für sein Requiem wählen wird. Bei Mozart ist es überhaupt die tragische Tonart. Warum Bach sich für d-Moll entschieden hat? Wir können da nur spekulieren und die Tonartencharakteristik von Johann Mattheson konsultieren. Mattheson, dieser barocke Hamburger, der als kenntnisreichster Musiktheoretiker seiner Zeit gilt, er vermerkte 1713 in seiner Schrift „Das Neu-Eröffnete Orchestre“ zu d-Moll: dass sie „etwas devotes, ruhiges, dabey auch etwas grosses, angenehmes und zufriedenes enthalte; dannenhero derselbe (Tohn) in Kirchensachen die Andacht, in communi vita aber die Gemüths-Ruhe zu befördern capable sey; wiewohl solches alles nichts hindert, daß man nicht auch was ergetzliches, doch nicht sonderlich hüpfendes, sondern fliessendes, mit Succes aus diesem Tohne setzen könne“. Zentrale Begriffe aus dieser Charakterisierung sind: ruhig, groß, angenehm, ergötzlich, fließend. Fließend – man denke an die Polyphonie!
Was die Wahl dieser Tonart ebenfalls bestimmt haben könnte: Im Zentrum steht der Ton d. Er bildet den Mittelpunkt des diatonischen Tonsystems und hat nach oben und unten die gleiche Folge von Ganz- und Halbtönen. Der Ton d nicht nur als Mittelpunkt des Tonsystems, sondern auch der Seinsordnung, was ihn für höhere Aufgaben qualifiziert.
Wir hören das Grundthema mal für sich allein.
Das Thema beinhaltet den Quintschritt und den Dreiklang und benutzt zudem den Ton cis, den Leitton für d-Moll. Also: aufsteigender Quintschritt, fallender d-Moll-Dreiklang, Leitton cis, der sogleich in den Grundton übergeht. Von dem in einem zweiten Aufstieg erreichten Ton f führen dann vier Achtelnoten fast nach Art einer Verzierung, eines Doppelschlags, zurück zum Grundton. Man beachte: Im Grundthema und in seiner Umkehrung ist das B-A-C-H-Thema bereits angelegt. Stichwort Grundthema: Das Thema ist da, und in der „Kunst der Fuge“ wird dessen Potenzial von einer Koryphäe des Kontrapunkts systematisch erforscht. Gleichwohl hat dieses Erforschen nichts Belehrendes und Schulmeisterliches an sich, sondern ist ein klingendes Forum verschiedener Ausdrucksebenen. Zum Thema gab es auch vorsichtige Kritik – man staune, vom Bach-Kenner Albert Schweitzer, der in seiner Bach-Monografie von 1908 schrieb: „Interessant kann man es [das Thema] eigentlich nicht nennen; es ist nicht einer genialen Intuition entsprungen, sondern mehr in Hinsicht auf seine allseitige Verwendbarkeit und in Absicht auf die Umkehrung so geformt worden. Und dennoch fesselt es denjenigen, der es immer wieder hört. Es ist eine stille, ernste Welt, die es erschließt. Öd und starr, ohne Farbe, ohne Licht, ohne Bewegung liegt sie da; sie erfreut und zerstreut nicht; und dennoch kommt man nicht von ihr los.“ Im letzten Punkt hat Schweitzer sicher Recht: Von der Welt dieser Musik kann man nicht lassen. Beim Hören der „Kunst der Fuge“ brennt sich der d-Moll-Kosmos einem geradezu ins Hirn. Man ist und Sie sind aufgefordert, sich dieser Welt zu nähern und sie sich zu erschließen. Bach selbst leistet da Hilfestellung – durch schnörkellose Substanz. Man begibt sich auf eine intellektuelle Höhe der musikalischen Mathematik, hinter der ein Artifex steht: ein eminenter Klangkünstler und Klangkonstruktivist.
Das Material steht bereit. Vierzehn Fugen, die in diesem Werk jeweils Contrapunctus heißen, und vier Kanons werden aus ihm geformt. Mehrere Fugentypen sind zu unterscheiden (Sie können das nachher im Konzert anhand der Auflistung im Programmheft gut nachvollziehen):
- die einfachen Fuge über das Thema in der Urgestalt
- die einfachen Fuge über das Thema in der Umkehrung
- die Gegenfugen über das variierte Thema und seine Umkehrung (Gegenfuge = der Comes ist die Umkehrung des Dux)
- die Besonderheit bei Contrapunctus VI mit dem Zusatz „in Stylo Francese“ (im punktierten Stil der französischen Ouvertüre)
- Doppelfugen – etwa die über ein neues Thema und das Hauptthema
- Tripelfugen über zwei neue Themen und das variierte Hauptthema
- die Gruppe der Spiegelfugen (der gesamte Satz ist spiegelbildlich umkehrbar)
- die zweistimmigen Kanons
- der finale unvollendete Contrapunctus XIV, die sogenannte Quadrupelfuge
Stichwort Quadrupelfuge. Die letzte Fuge blieb Fragment. Den biographischen, irdischen und sehr menschlichen Grund kennen wir (vermutlich). Dass man diese Fuge später auch mal komplettiert hat, so vom Bach-Interpreten und Organisten Helmut Walcha – dieser Aspekt soll uns hier nicht weiter beschäftigen.
Bei der „Kunst der Fuge“ sind die handschriftliche Fassung und andererseits der Erstdruck von 1751/52 zu unterscheiden. Zudem unterscheidet sich die Reihenfolge der einzelnen Sätze, was den Umgang mit diesem Bach’schen Spätwerk nicht eben erleichtert. Es existieren mehrere Autographen, von denen jedoch keiner den Zyklus komplett enthält. Der Titel „Die Kunst der Fuge“ stammt nicht von Bach selbst. Notiert ist das Werk nicht etwa in einem Orgel- oder Klaviersatz, sondern Bach hat jede Stimme in einem eigenen Notensystem geschrieben. Damit knüpft er an eine Tradition des Notierens von polyphoner Musik an.
Zu fragen ist allerdings, für welches Instrument oder für welche Instrumente Bach seine „Kunst der Fuge“ komponiert hat. Antwort: Wir wissen es nicht. Und das bei einem Giganten der musikalischen Praxis, bei dem ansonsten über das zu nutzende Instrumentarium nur vergleichsweise selten Zweifel bestehen. Und das bei einem Werk, das als die Summe der Bach’schen Kontrapunktik gelten kann. Warum wird kein Instrument genannt? Hatte sich der späte Bach in den Finessen seiner hier ausgelebten kontrapunktischen Leidenschaft von den Usancen der Musikpraxis bereits derart weit entfernt, dass ihm die klangliche Realisierung allenfalls noch nachgeordnet erschien? Hat Bach das Werk gar lediglich zu Studien- und Lesezwecken komponiert, quasi als Augenmusik, ohne eine klangliche Umsetzung überhaupt zu erwägen? Wollte Bach damit am Ende des Barockzeitalters das Exempel einer musikalischen Wissenschaft statuieren? Wollte er einer Zeit und einer Ästhetik huldigen, für die er wie ein Leuchtturm stand und die vergangen war? Über all das können wir nur spekulieren. Auffällig aber ist es schon. Eines jedenfalls ist klar: Die „Kunst der Fuge“ ist so komponiert, dass sie auf Tasteninstrumenten wie dem Cembalo und der Orgel realisierbar ist. Auf der Orgel hören Sie das Werk heute, auf dem Cembalo am 4. Juni mit Robert Hill in der Freiburger Musikhochschule. Der Bach-Forscher Christoph Wolff umreißt die Instrumentenfrage so: „Die tasteninstrumentale Bestimmung der Kunst der Fuge ergibt sich […] nicht nur aufgrund ihres historischen Kontextes (Partiturnotation polyphoner Tastenmusik galt seit Scheidt und Frescobaldi als Konvention), sondern insbesondere aus ihrer Faktur, die konsequent auf Manualiter-Spielbarkeit Rücksicht nimmt.“ Es sei zumindest erwähnt, dass die „Kunst der Fuge“ auch bereits per Streichquartett, mit Saxophon oder sogar orchestral aufgeführt wurde – erinnert sei etwa an Wolfgang Graesers heute kaum noch zu hörende Bearbeitung für Orchester aus den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Graeser nannte die „Kunst der Fuge“ „eines der kostbarsten Güter der Nation“. Uraufgeführt wurde die Graeser-Fassung 1927 in der Leipziger Thomaskirche. Die Leitung hatte damals Thomaskantor Karl Straube. Zur Datierung des Originals: Christoph Wolff, ein Spezialist für Bachs Spätwerk, kam zu dem Ergebnis, dass Bach wohl bereits Ende der 1730er Jahre mit der „Kunst der Fuge“ befasst war und sie somit keineswegs nur ein Produkt seiner finalen Lebensphase ist. Der renommierte niederländische Bach-Interpret Ton Koopman ist der Meinung, Bach habe nicht nach 1743 an der „Kunst der Fuge“ gearbeitet. Koopman zeigt sich auch überzeugt, dass das Werk, zumindest im Entwurf, fertig war und man vielleicht einmal das Glück haben wird, den Rest zu finden.
In dem sogenannten Nekrolog, jenem aus dem unmittelbaren familiären Umfeld stammenden umfangreichen Nachruf auf Johann Sebastian Bach, heißt es zur „Kunst der Fuge“: „Diese ist das letzte Werk des Verfassers, welches alle Arten der Contrapuncte und Canonen, über einen eintzigen Hauptsatz enthält. Seine letzte Kranckheit, hat ihn verhindert, seinem Entwurfe nach, die vorletzte Fuge völlig zu Ende zu bringen, und die letzte, welche 4 Themata enthalten, und nachgehends in allen 4 Stimmen Note für Note umgekehret werden sollte, auszuarbeiten.“ Vor allem mit dem unvollendeten Schluss begann das, was auf der „Kunst der Fuge“ bis heute wie eine Hypothek lastet: die Legenden- und Mythenbildung. Aus barocker Sicht und Ästhetik hatte das Werk einen Makel: den des Unvollendeten, den Fragmentcharakter. Es entstand sogar die Theorie, dass die unvollendete Quadrupelfuge nicht zu dem Werk gehöre – weil angeblich das Hauptthema nicht vorkomme. Dem Fragmentcharakter des Werks sollten, ja müssen wir uns stellen, und dieses Faktum gilt es auszuhalten. Es berührt unmittelbar und geht – auch beim separaten Hören nur dieser einen Fuge – unter die Haut: wenn der Klangstrom der letzten Fuge schmaler wird, verebbt, eine Reduktion der Stimmen stattfindet und die Musik unvermittelt in eine plötzliche Stille, in Leere, mündet. Kein Komponist dieser Welt könnte mit den Mitteln seiner Kunst nachdrücklicher versinnlichen, was da passiert ist: wie Sterben und Tod Macht über das Leben gewinnen.
Es liegt in der menschlichen Natur, dass man sich mit diesem abrupten, kunstfernen Ende nicht zufrieden geben wollte. Man hätte die Fuge vollenden können, wenngleich der Autor der Komplettierung dann nicht mehr Bach gewesen wäre. Zweite Möglichkeit – und es ist die, die Ihnen gleich auch im Konzert begegnen wird: der angefügte Choral „Vor deinen Thron tret‘ ich hiermit“ BWV 668. Dieser Choral aber hat mit der „Kunst der Fuge“ nichts zu tun. Erkennbar allein schon an der Tonart: Im Gegensatz zum d-Moll des Fugenkompendiums steht der Choral in G-Dur. Höchstwahrscheinlich war es Carl Philipp Emanuel Bach, der das Fragmentproblem des väterlichen Werks mit Hilfe des Chorals zu lösen versuchte. Laut einer vermutlich von Carl Philipp Emanuel stammenden Notiz hatte der Vater diesen Choral „in seiner Blindheit einem seiner Freunde aus dem Stegereif in die Feder dictiret“. Was an dieser Information Dichtung und was Wahrheit ist: Wir wissen es nicht. Auffällig bei der Choralbearbeitung ist jedenfalls, dass sie einen zu Bachs Zeit bereits veralteten Typus repräsentiert: die nach dem Nürnberger Barockkomponisten Johann Pachelbel benannte Pachelbel-Form. Sie bedeutet, dass jede Choralzeile mit einer Fughetta eingeleitet und damit vorimitiert wird. Die Liedmelodie liegt in der Oberstimme. Hans Heinrich Eggebrecht fand zum Choral deutliche Worte: „er ist überflüssig“. Und das, obwohl es dem Choral im Kontext der „Kunst der Fuge“ gelungen ist, den Rang einer Aufführungstraditon zu erreichen. So, wie Sie ihn ja auch heute hören werden. Zudem ist es genau dieser Choral, der in diesem Jahr als Pflichtstück bei sämtlichen Konzerten der Reihe „Mit Bach durch die Regio“ erklingt – an jeweils einer anderen Orgel und mit jeweils einem anderen Interpreten. Eine packende, quasi spätromantische Lösung des Fragmentproblems konnte ich genau heute vor zwei Jahren im Frankfurter Kaiserdom erleben: Der Organist Martin Lücker ließ auf den letzten Ton der Quadrupelfuge fast ohne Pause die klanggewaltige B-A-C-H-Fantasie von Max Reger folgen. Die Botschaft war eindeutig: Bach lebt. Und wie!
Nach Carl Philipp Emanuel Bachs Einschätzung handelt es sich bei der „Kunst der Fuge“ um ein Lehrwerk. Er schrieb, „daß jeder Schüler der Kunst … nothwendig daraus lernen muß, eine gute Fuge zu machen, und also keinen mündlichen Lehrmeister, der sich das Geheimniß der Fuge oft theuer genung bezahlen lässet, zu seinem Unterrichte bedarf“. Ob zum Unterricht, zum Studium oder tatsächlich auch zum öffentlichen, konzertanten Hören: Bachs „Kunst der Fuge“ ist ein in seinem Anspruch unvergleichliches Beispiel der musikalischen Kombinatorik. Ein ungemein dichtes und konzentriertes Werk, das, wenn man so will, auch Prinzipien der Variation in sich trägt – einer Form, in der Bach mit den Goldberg-Variationen ja ebenfalls ein überzeitlich gültiges Exempel vorgelegt hat, das gewichtigste und bedeutendste Variationenwerk in der Musik vor 1800. Die „Kunst der Fuge“ dokumentiert ihrerseits, wie der reife Bach und kontrapunktische Souverän ein geradezu lustvolles Gefallen an Polyphonie und klingender Mathematik fand.
Auch die Chromatik spielt in der „Kunst der Fuge“ eine Rolle. In Contrapunctus III, der ersten der beiden einfachen Fugen über die Themenumkehrung, wird sie eingeführt. Die Welt der fürs Barockzeitalter typischen musikalisch-rhetorischen Figuren als Ausdrucksträger ist mit diesem Fugen-Kompendium ebenfalls verwoben. Mit einem Kompendium, das als Zyklus anzusprechen ist. Als ein Zyklus, der als Progression angelegt ist, der vom Einfachen zum Komplizierten fortschreitet. Einfache Fuge, Gegenfuge, Doppelfuge, Tripelfuge et cetera: Alles kommt vor. Der Zyklus bezieht das Prinzip der Variation nicht nur als Veränderung der Gestalt ein, sondern als elementare Veränderung ihrer selbst. Dass es sich bei der „Kunst der Fuge“, allem Konstruktivismus zum Trotz, keineswegs um ein blutleeres Exerzitium handelt, beweist die Tatsache, dass Rhetorik und Affekte mitunter die Ebene des Dramatischen erreichen. In dieser d-Moll-Welt ist es dann von Bach bis zur Dramatik Mozarts, etwa der Komtur-Sphäre in der Oper „Don Giovanni“, nicht mehr weit. Die Fuge bei Bach präsentiert sich als kontrapunktisches Lehrstück und im Ausdruck gleichzeitig sogar als barockes Charakterstück. Bach beweist, dass Konstruktivismus und musikalische Wissenschaft auch eine sinnliche Seite haben können. Versuchen Sie beim Hören der substanziellen Musik diesen Charakter für sich aufzuspüren und ihn für sich erfahrbar werden zu lassen. Jede und jeder kann das auf seine Art tun.
Johann Nikolaus Forkel, der erste Bach-Biograph, definierte die „Kunst der Fuge“ als Vermittlung dessen, „was möglicher Weise über ein Fugenthema gemacht werden könne“.Forkel war es auch, der 1802 meinte: „Aber diese Bachische Kunst der Fuge war doch für die große Welt zu hoch; sie mußte sich in die kleine, mit sehr wenigen Kennern bevölkerte, Welt zurückziehen.“ Die „Kunst der Fuge“ erschien in einer Phase, als das Klima für diese Art von Musik nicht eben günstig war. Die Zeiten haben sich zum Glück geändert. Bach war vergessen, ehe er 1829 von Felix Mendelssohn Bartholdy durch die Aufführung der Matthäus-Passion wiederentdeckt wurde. Ein ziemlich spezielles Werk aber ist die „Kunst der Fuge“ bis heute. Und zwar für Ausführende und Hörer. Auch über Fragmentcharakter und Komplexität der Faktur hinaus ist in diesem Fall die Bewunderung allenthalben groß.
„Gestern Kunst der Fuge gehört. Herrlich!! Ein Werk, das bisher für Mathematik gehalten wurde. Tiefste Musik!“, schrieb Alban Berg 1928 an seine Frau – Berg war, zusammen mit Arnold Schönberg und Anton Webern, bekanntlich einer der Protagonisten der sogenannten Zweiten Wiener Schule. Auffallend allerdings: Den glühenden Bach-Verehrer Max Reger, diesen 1916 verstorbenen spätromantischen Meister der Polyphonie, der sich zeitlebens auch als Arrangeur mit Bachs Musik intensiv befasst hatte, ihn hat die „Kunst der Fuge“ offenbar wenig interessiert – zumindest ist mir kein Beleg dafür bekannt, dass es anders gewesen wäre. Wie dem auch sei: Im aktuellen Konzertbetrieb ist das Werk – zumal als Gesamtaufführung – ein eher seltener Gast. Weil es für den Hörer eben sehr anspruchsvoll ist. Meistens vernimmt man den Zyklus, oder zumindest Teile davon, auf der Orgel. Überspitzt ließe sich sagen: Spezialisten spielen da für ein Spezialpublikum. Manche Organisten haben die „Kunst der Fuge“ auf CD eingespielt – so auch der Freiburger Orgelprofessor und Domorganist Matthias Maierhofer, dessen Aufnahme demnächst erscheinen soll. Auch heute in St. Peter werden Sie das Werk – mit diesmal drei Interpreten – unter anderem auf der Orgel hören: auf den beiden Orgeln der benachbarten Barockkirche, also der 1967 erbauten und für Barockmusik sehr geeigneten Klais-Orgel auf der Empore und der neuen Rieger-Orgel im Chorraum, zudem auf zwei Klavieren. Bachs Werk erklingt dabei in der im Stuttgarter Carus-Verlag erschienenen Edition von Siegfried Petrenz.
Hans Heinrich Eggebrecht bekannte 1984: „Möge Bachs Kunst der Fuge aufgeführt werden, öffentlich, in Konzertsälen und Kirchenräumen, heute und morgen; möge man immer wieder aufs neue den Aufführungsproblemen sich stellen in ihrer Unlösbarkeit. Vollkommen kann diese Musik für mich nur sein, indem ich sie denke, sie weiß, sie in mir trage.“ Persönlich gefärbte Worte, die einem keineswegs die Freude am Hören, die Begegnung mit dem aufführungspraktisch hoffentlich gründlich reflektierten klingenden Resultat, vermiesen wollen. Worte, die aber auch dazu auffordern wollen, weiterhin kritische Fragen zu stellen – auch wenn diese nur zum Teil oder überhaupt nicht zu beantworten sind.
Die „Kunst der Fuge“ – bei Bach ist das Reife, Spätwerk, Gipfel. Eine Musik, der man fast mit Ehrfurcht begegnet. In Bachs Schaffen – und nicht nur dort – wirkt sie wie ein erratischer Block. Und: Die „Kunst der Fuge“ ist gleichsam ein Mythos. Doch Mythen sind langlebig. Lassen Sie sich heute beim Hören dieser kontrapunktisch bis in den entlegensten Winkel durchwirkten Musik unterstützen. Von den Farben und Möglichkeiten der einzelnen Instrumente, die erklingen werden. Vom sich vielleicht unterschiedlich zeigenden Temperament der Interpreten. Und lassen Sie sich, indem Sie sich bewusst auf sie einlassen, von der musikalischen Meisterschaft des Lutheraners Bach berühren. Von einer Musik, die immer irgendwo auch klingende Theologie ist.
Werden Sie nicht mutlos! Diese Musik ist derart komplex, dass sie beim Hören nie restlos zu verstehen ist. In Bachs Schaffen gibt zahllose Werke, die zugänglicher, sympathischer, man möchte sagen: sogar attraktiver klingen als dieser Fugen-Intensivkurs in d-Moll. Auch die beste, transparenteste und pädagogischste Wiedergabe kann nur bis zum einem bestimmten Grad für Vermittlung sorgen. Auch kann eine mündliche Einführung wie diese kaum das leisten, was eher mit einer akribischen Analyse leistbar wäre. Wir leben nicht mehr im Barockzeitalter – aber Fragen und Aura dieses Werks sind geblieben. Wer weiß, vielleicht kann ja der Geist des heutigen Pfingstfestes das Verständnis befördern. Bachs „Kunst der Fuge“ ist der Himalaya des Kontrapunkts und die Besteigung schwierig.
Zusammenfassend können wir sagen: Die „Kunst der Fuge“ impliziert so, wie sie auf uns gekommen ist, fünf Komponenten.
- Sie ist später Bach.
- Sie ist als Zyklus gedacht.
- Sie ist musikalisch ein Gipfel an Kombinatorik, Konstruktivismus und Komplexität.
- Expressis verbis gibt es keine Zuordnung zu einem Instrument oder Instrumentarium.
- Die „Kunst der Fuge“ ist Fragment geblieben.
Hören Sie das Werk im Zusammenhang, und freuen Sie sich an dem, was Sie verstanden haben. Bewundern Sie den Komponisten, bleiben Sie ihm gewogen und demütig gegenüber der singulären Höhe von Bachs Kunst. Und: Sind Sie nachsichtig gegenüber sich selbst. Nehmen Sie möglichst viel mit von diesem Werk, tragen Sie viel davon in sich, in Ihr Leben, in Ihren Alltag. Ich wünsche uns allen ein schönes Konzert. Und danke Ihnen.
J.A._20.05.18